Lille – Flämische Architektur erleben

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Lille, im äußersten Norden Frankreichs gelegen, ist eine Stadt, die auf einzigartige Weise von der Geschichte Flanderns und Frankreichs geprägt wurde. Wer heute durch die Gassen des Vieux-Lille spaziert, begegnet einer faszinierenden Mischung aus historischen Bauwerken, kulturellem Reichtum und kulinarischen Spezialitäten. Im Kern trägt die Stadt jedoch ein flämisches Gesicht – ein Erbe, das seit Jahrhunderten das Stadtbild bestimmt und Lille zu einem architektonischen Schatzkästchen macht.

Bis 1667 war Lille Teil der Spanischen Niederlande und stand in engem Austausch mit Handelszentren wie Antwerpen, Gent und Brügge. Diese Epoche brachte eine Blüte bürgerlicher Architektur hervor, die bis heute die Straßen prägt. Charakteristisch sind die Fassaden aus rotem Backstein, durch helle Sandsteinrahmen gegliedert, die reich ornamentierten Treppen- und Volutengiebel sowie das Rollwerk, das den Häusern eine unverwechselbare Silhouette verleiht. Besonders eindrucksvoll zeigt sich diese Bauweise in der Vieille Bourse, die 1652 bis 1653 von dem flämischen Architekten Julien Destrée im Auftrag von Philipp IV. von Spanien errichtet wurde. Das Ensemble aus 24 Häusern, die einen arkadierten Innenhof umschließen, verkörpert die flämische Renaissance in ihrer ganzen Pracht. Mit ionischen und toskanischen Pilastern, figuralen Reliefs, Medaillons und dekorativen Voluten nimmt die Architektur Bezug auf die italienische Renaissance, interpretiert sie aber im Geist des flämischen Sinns für Vielfalt und Detailfülle. Die Vieille Bourse gilt damit als städtisches Manifest des florierenden Handels, vergleichbar mit der Antwerpener Börse von 1531, die als Prototyp des europäischen Handelsgebäudes angesehen wird.

Auch die Sakralarchitektur Lilles ist von der Nachbarschaft zu Flandern geprägt. Die Église Saint-Maurice, die zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert entstand, ist ein Beispiel der brabantischen Gotik. Als Hallenkirche konzipiert, verfügt sie über gleich hohe Schiffe, die dem Innenraum eine horizontale Einheit verleihen. Diese Bauweise, auch in Städten wie Mechelen oder Leuven verbreitet, steht in starkem Kontrast zur französischen Kathedralgotik, die auf vertikale Monumentalität und hochaufragende Türme setzt. Die Église Sainte-Catherine wiederum ergänzt dieses Bild und verweist ebenfalls auf flämische Traditionen.

Mit der Eroberung Lilles durch Ludwig XIV. im Jahr 1667 begann eine neue Epoche. Der Festungsbaumeister Sébastien Le Prestre de Vauban errichtete zwischen 1667 und 1670 die Citadelle de Lille, ein Meisterwerk der Militärarchitektur. Sie verkörpert die französische Klassik mit ihrer Rationalität, Symmetrie und geometrischen Klarheit. Doch während die militärischen Anlagen französische Handschrift trugen, blieben die bürgerlichen Bauten fest im flämischen Stil verankert. So entstand ein hybrides Stadtbild, das bis heute die Identität Lilles prägt: französische Monumentalität und flämische Detailfreude stehen nebeneinander und bilden ein harmonisches Ganzes.

Die Stadt ist jedoch nicht nur ein Freilichtmuseum historischer Architektur, sondern auch ein Zentrum der Kunst. Das Palais des Beaux-Arts, 1892 eröffnet, zählt zu den bedeutendsten Museen Frankreichs und beherbergt Werke von Rubens, Goya, Delacroix und Courbet. Das LaM – Lille Métropole Musée d’Qrt Moderne, d’Art Contemporain et d’Art Brut – verbindet die Klassische Moderne mit Gegenwartskunst und zeigt Arbeiten von Picasso, Braque und Dubuffet. Hier wird deutlich, dass Lille nicht in seiner Vergangenheit verharrt, sondern immer wieder neue künstlerische Impulse aufnimmt.

Wer die Stadt besucht, sollte sich auch den kulinarischen Traditionen widmen. Die Region Nordfrankreich ist für ihre herzhaften Speisen bekannt, die tief in der flämischen Küche verwurzelt sind. Ein Klassiker ist die Carbonade flamande, ein Rindfleischeintopf, der mit dunklem Bier geschmort wird und die herzhafte Wärme des Nordens verkörpert. Ebenso charakteristisch ist Waterzooi, ein cremiger Eintopf aus Fisch oder Geflügel. Der kräftige Maroilles-Käse, eine regionale Spezialität mit intensivem Aroma, sowie die berühmten Gaufres de Lille, gefüllte Waffeln mit Vanillecreme, runden das kulinarische Bild ab. In den Brasserien und Bierstuben der Stadt verbinden sich diese Speisen mit den traditionsreichen nordfranzösischen Bieren zu einer Erfahrung, die Kultur und Geschmack untrennbar miteinander verbindet.

Einen besonderen Höhepunkt erlebte Lille im Jahr 2004, als die Stadt zur Europäischen Kulturhauptstadt ernannt wurde. Dieses Ereignis brachte internationale Aufmerksamkeit und führte zu umfangreichen Investitionen in die Kultur. Neue Kunstprojekte, Festivals und Ausstellungen machten deutlich, dass Lille mehr ist als ein Ort historischer Architektur. Es ist eine Stadt, die Tradition und Moderne in einem dynamischen Dialog vereint. Heute steht Lille exemplarisch für die kulturelle Vielfalt Europas: eine Stadt, die ihr flämisches Erbe bewahrt, französische Einflüsse integriert und zugleich eine lebendige Gegenwartskultur pflegt. Wer Lille besucht, erlebt eine Reise durch die Jahrhunderte, von der Gotik über die Renaissance bis hin zur zeitgenössischen Kunst, begleitet von den Aromen einer Region, die ihre Geschichte auch auf den Tellern bewahrt.

Text und Fotos: Dieter Roßbach